Der Streit in der Christenheit über Lehrfragen, Dogmen und Bibelauslegung ist so alt wie die Kirche selbst, aber er ist keineswegs nur ein Relikt der Vergangenheit. Auch heute entzündet sich in Gemeinden und theologischen Diskussionskreisen immer wieder die Frage, wer die Wahrheit richtig verstanden hat. Dass dies kein Zufall ist, liegt daran, dass es zwei gegensätzliche Tendenzen zugleich gibt: Auf der einen Seite stehen echte Irrlehrer, die das Evangelium verfälschen und Menschen von Christus wegführen. Diese gilt es zu erkennen, um geistlichen Schaden abzuwenden. Auf der anderen Seite aber finden sich unzählige Lehrstreitigkeiten, die für das Heil keine zentrale Rolle spielen. Sie drehen sich um Randfragen, die nicht den Kern des Evangeliums betreffen. Hier wäre eine Haltung der Gelassenheit und des Respekts angebracht – das Bewusstsein, dass Gott größer ist als menschliche Systematik und dass es zulässig ist, unterschiedliche Schwerpunkte zu haben, solange Christus der Mittelpunkt bleibt.
Die wichtigsten und gefährlichsten Irrlehren
- Leugnung der Menschwerdung Jesu Christi
→ Behauptung: Jesus sei nicht wirklich Mensch geworden.
→ Gefahr: Verneint die Inkarnation (Fleischwerdung Gottes) und damit die Erlösung durch das Kreuz. - Leugnung der Gottheit Jesu Christi
→ Behauptung: Jesus sei nur ein Prophet oder Lehrer, nicht wahrhaft Gott.
→ Gefahr: Entzieht dem Evangelium seine Grundlage – nur Gott selbst kann retten. - Allversöhnungslehre (Universalismus)
→ Behauptung: Am Ende werden alle Menschen ohne Ausnahme gerettet.
→ Gefahr: Relativiert Kreuz und Gnade, nimmt den Ernst der Sünde und der Umkehr. - Werkgerechtigkeit
→ Behauptung: Heil wird durch eigene Werke, Gesetze oder Leistungen erlangt.
→ Gefahr: Führt in Gesetzlichkeit und Stolz, nimmt Christus die zentrale Rolle. - Wohlstandsevangelium
→ Behauptung: Glaube garantiert materiellen Erfolg und Gesundheit.
→ Gefahr: Verfälscht das Evangelium, verdrängt Leid und Nachfolge. - Relativismus / Synkretismus
→ Behauptung: Alle Religionen führen gleichermaßen zu Gott.
→ Gefahr: Verneint die Einzigkeit Christi als Weg zum Vater. - Leugnung der Auferstehung Jesu Christi
→ Behauptung: Jesu Auferstehung sei nur symbolisch oder metaphorisch.
→ Gefahr: Nimmt dem Glauben seine Hoffnung und Kraft.
Es gibt viele Themen, die Christen unterschiedlich sehen und die keine Irrlehren sind, sondern Randfragen oder Fragen der persönlichen Frömmigkeit. Sie berühren nicht das Zentrum des Evangeliums (Jesus Christus, sein Kreuz und seine Auferstehung).
Beispiele für Randfragen, die keine Irrlehren sind
- Festtage und Traditionen
Ob man Weihnachten, Ostern oder andere Feste feiert – oder bewusst nicht. - Speisevorschriften
Vegetarisch, koscher, vegan oder „alles essen“ – Paulus betont in Römer 14, dass dies Glaubensfreiheit ist. - Taufpraxis
Kindertaufe oder Glaubenstaufe, einmal untertauchen oder übergießen – unterschiedliche Traditionen, aber keine Verfälschung des Evangeliums. - Abendmahlsverständnis
Symbolisch, geistlich real oder sakramental – verschiedene Deutungen, aber alle bekennen Christus als den Gastgeber. - Geistliche Gaben
Ob man glaubt, dass bestimmte Gaben (z. B. Zungenrede, Heilungen) heute noch praktiziert werden oder nicht. - Gemeindeformen
Hausgemeinde, große Kirche, freie Werke – Vielfalt, aber keine Irrlehre. - Rollenverständnis
Frauen als Pastorinnen oder nicht – eine Frage der Auslegung, nicht des Heils. - Kulturelle Fragen
Kleidung, Musikstile im Gottesdienst, Umgang mit Literatur oder Filmen (z. B. Harry Potter). - Sexualethische Fragen
- Unterschiedliche Sichtweisen zu Ehe, Partnerschaft, Scheidung oder Homosexualität – oft kontrovers diskutiert, aber nicht automatisch Irrlehre, solange Christus und seine Gnade im Zentrum bleiben.
Das größte Hindernis besteht in der Fähigkeit, zwischen diesen beiden Bereichen zu unterscheiden. Für einige Christen ist alles erlaubt, solange jemand an Jesus glaubt, während andere selbst kleinste Abweichungen als Zeichen von Irrlehre betrachten. Manche messen Frömmigkeit daran, ob jemand säkulare Literatur liest, Feiertage begeht, bestimmte Speisevorschriften hält oder verwirft, sich auf eine bestimmte Art taufen lässt oder es gar nicht tut. Über die Aktivität des Heiligen Geistes nach den Aposteln, die Bedeutung des Abendmahls, die Solas der Reformation, die Berufung von Frauen oder die Sicht auf Sexualität wird gestritten, als hinge das Heil selbst daran. In vielen evangelikalen Kreisen existiert die Überzeugung, dass zu jedem dieser Punkte eine klare und unumstößliche Wahrheit in der Bibel zu finden sei. Wer abweicht, steht außerhalb der Gnade.
Diese Haltung entspringt weniger einem bösen Willen als vielmehr dem Wunsch nach Sicherheit. Der Gedanke, dass der eigene Glaube nicht vollumfänglich richtig sein könnte, bedroht das innere Gleichgewicht. Viele fürchten, dass das Infragestellen eigener Überzeugungen den Boden unter den Füßen wegzieht. So wird aus Gewissheit Hochmut, aus Überzeugung Rechthaberei. Viele dogmatische Christen berufen sich auf Bibelverse, die sie rauf und runter zitieren, als wären sie Schutzschilde, doch sie vergessen, dass diese Verse zur Liebe und nicht zur Überheblichkeit führen sollen. Und gerade dort, wo Liebe durch Überheblichkeit verdrängt wird, erscheint es bequemer, sich als Verteidiger der absoluten Wahrheit zu sehen, als zu erkennen, dass geistliche Erkenntnis Stückwerk bleibt.
Der Apostel Paulus erinnert daran: „Wir erkennen stückweise und wir weissagen stückweise“ (1. Korinther 13,9). Diese Einsicht ruft zur Demut.
Der Katechismus hat seinen Wert, weil er Glaubensinhalte ordnet und Orientierung bietet. Doch er darf nicht zum Werkzeug werden, um andere niederzudrücken. Die Geschichte der Kirche zeigt, dass die Fixierung auf dogmatische Details zu immer neuen Spaltungen führt. Wenn Toleranz als Sünde gilt, bleibt nur der Weg der Trennung. So entstehen unzählige Konfessionen, jede mit dem Anspruch, die einzig wahre Theologie zu vertreten. Ironischerweise geschieht dies oft aus „guter Absicht“ – man will der Bibel treu bleiben, Irrtümer korrigieren, das Heil bewahren. Doch hinter der Maske dieser Frömmigkeit verbirgt sich häufig das Bedürfnis nach Kontrolle, Macht oder intellektueller Überlegenheit. Wer auf diese Weise glaubt, dient nicht der Wahrheit, sondern sich selbst.
“Wo Dogmen über Christus gestellt werden, entsteht Spaltung – und aus vermeintlicher Wahrheitsliebe wird geistlicher Stolz.”
Ein weiterer Faktor ist die mangelnde Bereitschaft zur Selbstprüfung. Ich habe versucht, Christen dazu zu bewegen, über die Grundlagen ihres Glaubens nachzudenken. Warum halte ich meine Auslegung der Schrift für gültiger als die anderer? Welche Ängste, welche Bedürfnisse oder menschlichen Strukturen prägen mein Gottesbild? Doch diese Fragen stoßen meist auf Ablehnung. Viele reagieren mit Abwehr oder Unverständnis. Die Einladung, den eigenen Glauben einmal von außen zu betrachten, wird als Angriff gedeutet. Dabei fordert uns die Bibel selbst dazu auf: „Prüfet alles, und das Gute behaltet“ (1. Thessalonicher 5,21). Wahre geistliche Reife zeigt sich im Mut, sich selbst prüfen zu lassen. Wer sich selbst von der geistlichen Prüfung ausschließt, der verschließt zugleich die Tür zur wahren Erkenntnis, weil er die Stimme des Geistes nicht mehr hören will.
Wenn Menschen jedoch das Denken einstellen, um ihren Glauben zu schützen, verfehlen sie genau das Ziel, das sie zu wahren meinen. Glaube ist kein starres System, sondern eine lebendige Beziehung zu Gott. Diese Beziehung erträgt Fragen, Zweifel und Entwicklung. Rechthaberei tötet geistliches Leben, ebenso wie Intoleranz die Liebe erstickt. Jesus selbst hat Menschen nie nach ihren theologischen Feinheiten beurteilt, sondern nach ihrer Herzenshaltung. Die Pharisäer hatten Schriftkenntnis, aber keine Liebe. Dies sollte eine Mahnung an die heutige Kirche sein.
“Rechthaberei tötet das geistliche Leben, weil Jesus nicht Schriftkenntnis, sondern Liebe zum Maßstab macht.”
Christlicher Glaube darf nicht zur Bühne menschlicher Überheblichkeit werden. Humanitas – Demut – war immer das Kennzeichen wahrer Jüngerschaft. „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“ (Matthäus 23,12). Diese Worte Jesu sind ein Spiegel, in den wir alle schauen müssen. Nur wer sich seiner eigenen Begrenztheit bewusst ist, kann die Andersartigkeit des anderen respektieren. Geistliche Einheit bedeutet nicht Meinungsgleichheit, sondern gemeinsame Ausrichtung auf Christus. Doch wehe, wenn wir unsere Begrenztheit vergessen und meinen, über andere richten zu können – dann wird Einheit zerstört und Liebe erstickt. Geistliche Einheit lebt von Demut; wer sie durch Rechthaberei ersetzt, verrät Christus selbst.
Solange Christen mehr Energie darauf verwenden, ihren Standpunkt zu verteidigen, als gemeinsam zu beten, zu dienen und die Liebe zu leben, wird der Leib Christi zerrissen bleiben. Einheit entsteht nicht durch Zwang, sondern durch Liebe, nicht durch Selbstgerechtigkeit, sondern durch gegenseitige Gnade. Der Apostel Paulus mahnt: „Bemüht euch sehr darum, die Einheit, die der Geist Gottes gewirkt hat, durch das Bindemittel des Friedens zu bewahren.“ (Epheser 4,3). Solange wir meinen, Einheit durch Kontrolle oder durch das Durchsetzen eigener Wahrheiten erzwingen zu können, werden wir scheitern. Wahre Einheit wächst nicht aus Macht, sondern aus Demut. Sie entsteht dort, wo Christen bereit sind, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und den anderen in seiner Verschiedenheit stehenzulassen. Christus allein ist das Haupt – nicht menschliche Ansichten oder theologische Konstrukte.
Wer meint, auf der Seite der Wahrheit zu stehen, indem er unaufhörlich auf seine Bibeltreue und den Urtext verweist, läuft Gefahr, Christus selbst aus dem Blick zu verlieren. Denn so wichtig die Bibel ist – noch wichtiger ist die Liebe, die sie bezeugen will.
Wo Liebe fehlt, wird selbst die Bibel zum Werkzeug des Stolzes. Wer sich hinter Schriftkenntnis verschanzt, aber die Liebe vernachlässigt, verrät den Geist, der die Schrift lebendig macht. Paulus erinnert: ‚Wenn ich alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts‘ (1. Korinther 13,2).
“Darum gilt: Wahrheit ohne Liebe ist keine Wahrheit, sondern ein Schatten, der Christus verdeckt.”
Möge dieser Geist wieder Raum gewinnen – in den Herzen derer, die meinen, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und in denen, die verlernt haben, zuzuhören. Wahrer Glaube wächst nicht in der Enge des Dogmas, sondern in der Weite göttlicher Barmherzigkeit. Denn nur dort, wo Liebe größer ist als Rechthaberei, wo Demut stärker ist als Stolz und wo Christus über menschliche Systeme gestellt wird, kann Einheit entstehen. Die Kirche wird nicht durch Mauern bewahrt, sondern durch offene Herzen, die sich von Gottes Geist leiten lassen. So wird sichtbar: Wahrheit ohne Liebe bleibt leer, doch Liebe in der Wahrheit trägt das Siegel des Himmels. Amen.