Liebe ist der Herzschlag der Bibel, das Zentrum des Evangeliums und das größte Gebot, das Gott uns gegeben hat. Sie ist nicht eine von vielen Tugenden, sondern die Wurzel, aus der alle anderen wachsen. „Gott ist Liebe“ schreibt Johannes in seinem ersten Brief (1. Johannes 4,8). Das bedeutet: Liebe ist nicht nur eine Eigenschaft Gottes, sondern sein Wesen selbst. Alles, was Gott tut, geschieht aus Liebe. Wenn wir die Liebe wirklich verstehen wollen, müssen wir auf Gott schauen. In Jesus Christus ist sie sichtbar und greifbar geworden. Er verkörpert, was göttliche Liebe in Wahrheit bedeutet – selbsthingebend, wahrhaftig, barmherzig und unerschütterlich.
Doch was ist Liebe, wenn sie nicht auf menschliche Gefühle und Zuneigung beschränkt bleibt, sondern als göttliches Prinzip verstanden wird? Liebe in biblischem Sinn ist kein leichtes, romantisches Gefühl, wie manche Christen immer meinen, sondern eine selbsthingebende, treue und tragende Kraft. Sie ist eine Haltung des Herzens, die aus der Gemeinschaft mit Gott erwächst. Im Alten Testament steht dafür das hebräische Wort „hesed“, das eine verbindliche, treue Liebe meint – eine Liebe, die nicht nach Stimmung, sondern nach Bund handelt. Sie bleibt, auch wenn der andere versagt. Im Neuen Testament wird das mit dem Wort „agape“ bezeichnet – eine Liebe, die sich schenkt, die nicht sucht, was ihr nützt, sondern was dem anderen dient.
Paulus beschreibt sie so: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, sie eifert nicht, sie treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu“ (1. Korinther 13,4–5). Und wir müssen uns fragen: Wie weit sind wir von dieser Liebe entfernt – und wie sehr brauchen wir Gottes Geist, um ihr näherzukommen?“
Diese Liebe ist kein menschliches Produkt. Sie entspringt aus Gott selbst. Der Mensch kann sie nicht aus sich heraus erzeugen. Wir können lernen, freundlich zu handeln, gerecht zu denken, barmherzig zu sein – aber die Liebe, die Jesus meint, übersteigt das Menschliche. Es ist eine Liebe, die die Quelle nicht in unserem Herzen, sondern in SEINEM hat. Deshalb können wir sie nur empfangen. Wir können sie nicht bauen, aber wir können um sie bitten. Wir können Gott darum anflehen, unser Herz zu verändern. Jesus selbst sagt: „Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet die, die euch verfluchen, betet für die, die euch beleidigen“ (Lukas 6,27–28). Das ist menschlich unmöglich, wenn der Heilige Geist nicht in uns wirkt. Darum ist die christliche Liebe zugleich Geschenk und Auftrag.
“Liebe nach Gottes Maßstab ist nicht romantisch verklärt, sondern selbsthingebend, treu und unerschütterlich.”
Diese Liebe zeigt sich im Handeln, nicht nur im Fühlen. Sie hat Hände, die helfen, und Augen, die sehen. Sie sucht das Wohl des anderen, auch wenn es mich etwas kostet. Sie vergibt, wenn Rache naheliegt. Sie bleibt sanft, wenn sie verletzt wird. Sie stellt Wahrheit über Bequemlichkeit, Gnade über Stolz. Ihre höchste Form hat sie am Kreuz. Dort begegnen sich Schmerz und Liebe in unbegreiflicher Tiefe. Dort sieht man, dass Liebe mehr sein kann als Zuwendung – sie ist Hingabe. Jesus liebte bis ans Ende (Johannes 13,1). Am Kreuz betete er für seine Peiniger: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). Wer diesen Satz versteht, hat das Herz Gottes berührt. Wer liebt, wie Christus liebt, sucht nicht den eigenen Vorteil, sondern das Heil des anderen.
Die Liebe, von der die Bibel spricht, trägt nicht nur durch die schönen Stunden des Lebens. Sie bleibt auch in den dunkelsten. Sie ist nicht nur für Beziehungen gedacht, in denen Verständnis und Freude herrschen, sondern sie reicht in Situationen, die menschlich kaum auszuhalten sind. Wenn Menschen verfolgt, gefoltert oder gedemütigt werden, wenn Unrecht herrscht oder der Schmerz überwältigend wird, dann wird die Liebe zum Prüfstein des Glaubens. In solchen Augenblicken zeigt sich, ob Liebe nur eine Idee ist oder eine Macht, die stärker ist als Hass. Wahre Liebe zeigt sich nicht in den leichten Stunden, sondern im Aushalten der schweren.
In der Kirchengeschichte haben viele Christen bezeugt, dass gerade in den Momenten größter Bedrohung die Kraft der göttlichen Liebe offenbar wurde. Stephanus, der erste Märtyrer, wurde gesteinigt und betete im Sterben: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“ (Apostelgeschichte 7,60). Diese Worte erinnern an Jesus selbst. Das ist Feindesliebe, nicht aus menschlicher Stärke, sondern aus göttlicher Gegenwart. Sie beweist, dass Liebe nicht abhängig ist von der Reaktion des anderen, sondern von der Beziehung zu Gott. Wenn wir in seinem Geist leben, geschieht etwas in uns, das über unser Natürliches hinausgeht. Es ist die göttliche Liebe, die selbst unter Folter oder Hass nicht erlischt, weil sie von einer anderen Wirklichkeit her lebt.
“Wo Liebe lebt, verliert das Böse seine Macht, denn Liebe rechnet nicht auf, sondern vergibt.”
Doch um in dieser Liebe zu wachsen, muss sie gepflegt werden. Sie entsteht aus Gebet, aus der Verbindung mit Gott. Wer nicht in der Nähe Christi bleibt, wird diese Liebe nicht leben können. Jesus sagt: „Bleibt in meiner Liebe“ (Johannes 15,9). Er fordert uns nicht auf, selbst Liebe zu produzieren, sondern in seiner zu bleiben – in seiner Gegenwart, seinem Wort, seinem Geist. Dort tankt das Herz die Kraft, die sonst versiegen würde. Darum ist Beten um Liebe eines der wichtigsten Gebete überhaupt. Ein Gebet, das in Schmerz und Überforderung gesprochen werden kann: Herr, gib mir Liebe, wenn ich sie nicht fühlen kann. Herr, lehre mich lieben, wenn mir alles in mir nach Rache ruft. Herr, fülle mich mit deiner Liebe, wenn ich leer bin. Solche Gebete verändern nicht sofort alle Umstände, aber sie verwandeln das Herz, bis es in Übereinstimmung mit Christus schlägt.
“Wer liebt, wie Christus liebt, sucht nicht den eigenen Vorteil, sondern das Heil des anderen.”
Christliche Liebe ist nie blind oder naiv. Sie sieht das Böse, doch sie begegnet ihm mit Gutem. Sie ist wachsam, aber nicht bitter. Sie steht ein für Wahrheit, aber ohne Hass. Sie trägt, ohne alles gutzuheißen. Sie bleibt, auch wenn sie nicht verstanden wird. In ihr wohnt eine Kraft, die die Welt nicht erklären kann. Paulus fasst es zusammen: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13,13). Das höchste Ziel christlichen Lebens ist, diese Liebe widerzuspiegeln. Wer so liebt, zeigt, dass Christus in ihm lebt. Diese Liebe kann die Welt verändern, weil sie das Herz verändert. Sie ist die Frucht des Geistes (Galater 5,22), das Siegel der Heiligkeit, das Erkennungszeichen der Jünger Jesu. Wer liebt, wie Christus liebt, trägt Lasten anderer, auch wenn die eigenen schwer sind.
Darum beginnt alles mit der Bitte: Gott, lehre mich lieben. Lass mich deine Liebe empfangen und weitergeben. Mach mein Herz weit und mein Denken weich. Lass mich Menschen sehen, wie du sie siehst. Hilf mir, das Böse mit Gutem zu überwinden. Und wenn ich an meine Grenze komme, erinnere mich daran, dass du größer bist als mein Herz.
Am Ende bleibt: Liebe ist nicht bloß eine Tugend – sie ist die Gegenwart Gottes selbst im Leben eines Menschen. Sie ist das Licht, das in der Finsternis bleibt, und das Band, das Himmel und Erde verbindet. Wo sie wohnt, da ist Gott gegenwärtig. Und wo sie lebt, wird das Leben heil – selbst inmitten der unbegreiflichsten Dunkelheit.
Doch wir Christen müssen uns immer wieder fragen, ob wir Gottes Maßstab gerecht werden und in dieser Liebe leben. Christen, die hassen und keine Barmherzigkeit zeigen, stehen nicht in der Gegenwart Gottes – dort ist Christus nicht gegenwärtig. Man kann sich zwar Christ nennen, doch wenn Christus nicht in uns lebt, bleibt es ein leeres Wort. Ist uns das manchmal bewusst? Und bevor wir die Liebe von anderen einfordern, sollten wir den Mut haben, bei uns selbst anzufangen. Amen.